ME-Patienten entwickeln eine erhöhte Sensitivität gegenüber Sinnesreizen. Reize wie Licht und Geräusche können eine PENE („neuroimmune Entkräftung nach Belastung“) auslösen. Es kann auch sein, dass nur bestimmte Reize nicht vertragen werden und zu einer PENE führen, zum Beispiel flackernde Lichter oder viele, sich bewegende Objekte/Menschen in der Umgebung. Hierbei ist festzustellen, dass die Empfindlichkeit gegenüber Reizen nicht permanent gleich stark ausgeprägt sein muss. Viele Erkrankte können Sinneswahrnehmungen eine Zeit lang problemlos tolerieren, zum Beispiel für einige wenige Stunden, müssen sich dann aber von sämtlichen Reizen isolieren, um einen Zusammenbruch zu verhindern, da eine dauerhafte Konfrontation mit Sinneseindrücken für sie zu anstrengend ist und unweigerlich zur Verschlechterung ihres Zustandes führt. Um sich von Licht und Geräuschen zu isolieren, tragen die ME-Erkrankten Augenbinden oder legen sich Tücher über die Augen, sie benutzen Ohrenschützer oder speziell angefertigte Ohrstöpsel. Auch Reizungen des Gleichgewichtsorgans wie zum Beispiel beim Fahren in einem Auto bedeuten für ME-Patienten eine Anstrengung, von der sie sich nur in einer vollkommen reizfreien Umgebung, also ohne Licht, Geräusche und Vibrationen, erholen können. Selbst moderat Erkrankte müssen sich tagsüber stundenlang von Reizen isolieren, um die Eindrücke, die in den übrigen Stunden auf sie einprasseln, tolerieren und verarbeiten zu können.
Während einer PENE ist die Unverträglichkeit gegenüber visuellen, akustischen und sensorischen Reizen extrem ausgeprägt. Manche Patienten vertragen es während einer PENE noch nicht einmal, wenn ein Angehöriger ihre Hand hält oder in dem Zimmer, in dem sie liegen, auf und ab geht. Selbst leise Geräusche, wie das Ticken einer Uhr, verschlimmern dann den Zustand nur noch mehr. Deswegen ist es unabdingbar, den Patienten während einer PENE alleine zu lassen, damit er in einer vollkommen reizfreien Umgebung liegen kann. Nur dann wird er sich von der der PENE vorausgegangenen Anstrengung erholen können.
Bei Schwersterkrankten kann die Unverträglichkeit gegenüber Reizen so stark ausgeprägt sein, dass sie den Großteil des Tages oder sogar dauerhaft rund um die Uhr davon isoliert werden müssen. Es gibt ME-Erkrankte, die über Jahre hinweg in einem abgedunkelten Zimmer liegen müssen. Die gesamte Pflege dieser Menschen muss in Dunkelheit ausgeführt werden. Das Pflegepersonal und die Angehörigen können mit dem Erkrankten nur flüstern. In seltenen Fällen ist die Unverträglichkeit gegenüber Geräuschen so extrem stark ausgeprägt, dass selbst das nicht mehr möglich ist und die Familienmitglieder mit dem erkrankten Angehörigen mithilfe einer Zeichensprache kommunizieren. Auch die Unverträglichkeit gegenüber Berührungen kann so schlimm sein, dass die Angehörigen den Erkrankten nicht mehr umarmen können. Manche der Schwersterkrankten sind so krank, dass sie nicht mehr gewaschen werden können, weil Berührungen ihren Zustand weiter verschlechtern. Es sind seltene Fälle bekannt, in denen die Erkrankten extra Dosen Morphium benötigten, um das Wechseln ihrer Kleider oder Windeln zu ertragen.
Für die Erkrankten ist die nötige Isolation von Sinnesreizen eine kaum vorstellbare Einschränkung ihres Lebens. Bedeutet sie doch, dass – je nach Schweregrad – viele Stunden des Tages in vollkommener Ereignislosigkeit stattfinden müssen. Die Erkrankten erleben etwas eigentlich nicht Erlebbares: die Abwesenheit von Leben.