Die Bezeichnung „moderat erkrankt“ ist irreführend. Auch bei den so genannten „moderat Erkrankten“ handelt es sich um schwerkranke, schwerbehinderte Menschen, die an einer nicht heilbaren Krankheit leiden, die sie stark einschränkt, ihren Alltag prägt und ihre Lebenspläne zunichte macht. Einzig und allein die Tatsache, dass ME zu noch viel stärkeren und ausgeprägteren Behinderungen wie bei den so genannten „Schwererkrankten“ und „Schwersterkrankten“ führen kann, rechtfertigt den Begriff „moderat“. Dieses Attribut bedeutet aber keineswegs, dass es sich bei diesen Menschen um Patienten mit wenig Einschränkungen und schwach ausgeprägten Symptomen handelt. Auch moderat Erkrankte erleben das volle Set an Symptomen einer ME und sind dadurch in ihrer Lebensführung stark eingeschränkt.
Der Großteil der moderat Erkrankten ist arbeitsunfähig (was die Problematik des Begriffes „moderat“ deutlich vor Augen führt). Manche können womöglich noch einige wenige Stunden pro Woche einer Beschäftigung nachgehen. Viele junge Erwachsene müssen ihre Berufsausbildung oder ihr Studium abbrechen. Wenigen gelingt es, wenn sie viel Unterstützung von ihrer Familie und der Universität erhalten, ihr Studium in einer sehr viel längeren Studienzeit abzuschließen. Für manche kann ein Fernstudium eine Option sein. Doch der überwiegend große Teil der moderat erkrankten jungen Menschen bleibt ohne Berufsausbildung oder Studienabschluss. Erkrankte Kinder können nicht am regulären Schulbesuch teilnehmen. Manchen ist es möglich, stundenweise in die Schule zu gehen, für manche ist eine Hausbeschulung eine Alternative. Ob erkrankte Kinder einen Schulabschluss erreichen können, hängt in erster Linie vom weiteren Verlauf der Krankheit ab und ob bei einer Besserung das Kind die Schule wieder besuchen kann oder bei einer Verschlechterung sogar eine Heimbeschulung nicht mehr möglich ist.
Moderat Erkrankte sind nicht dauerhaft ans Bett gebunden, in der Regel werden aber auch sie täglich viele Stunden liegen müssen und nur für wenige Stunden aufstehen können. Sie sind in der Lage, das Haus zu verlassen, haben dabei jedoch große Einschränkungen, da sie sich meist nur eine begrenzte Zeit, zum Beispiel zwei bis drei Stunden, aufrecht halten können und dann wieder liegen müssen. In ihrer Wohnung kommen moderat Erkrankte ohne Rollstuhl zurecht, viele können auch außerhalb ihrer Wohnung kurze Strecken langsam gehen und zum Beispiel kleine Spaziergänge machen. Normale ortsübliche Strecken oder Gehen in normalem Tempo sind aber auch moderat Erkrankten nicht möglich. Manche Patienten benutzen deswegen außer Haus einen Rollstuhl bzw. Elektrorollstuhl, um nicht so stark eingeschränkt zu sein und mehr Lebensqualität zu haben bzw. um überhaupt erst wieder das Haus verlassen zu können.
Symptome, die die kognitive Leistungsfähigkeit einschränken, beeinträchtigen auch moderat Erkrankte sehr. Sie können auch bei ihnen so stark ausgeprägt sein, dass sie zeitweise nicht mehr lesen können. Meistens können sich moderat Erkrankte nur eine kurze Zeitspanne konzentrieren und eine intellektuelle fordernden Aufgabe nachgehen, zum Beispiel 20 Minuten oder eine halbe Stunde, teilweise auch mehr, je nach Ausprägung der Symptome.
Moderat Erkrankte sind nicht pflegebedürftig, sie können sich selbst waschen und alleine essen. Leichtere Hausarbeit können sie verrichten. Manche können ihren Haushalt alleine führen, andere brauchen täglich jemanden, der für sie kocht und andere Hausarbeiten übernimmt.
Sportliche Aktivitäten sowie andere körperlich anstrengende Tätigkeiten sind für alle ME-Patienten, auch für moderat Erkrankte, nicht möglich, da durch Bewegung Zytokine ausgeschüttet werden, die zur Zustandsverschlechterung führen und der Körper eines ME-Patienten signifikant weniger Energie bereitstellen kann als der Körper eines Gesunden. ME-Patienten müssen deswegen ihren Alltag so energiesparend wie möglich gestalten, zum Beispiel längeres Stehen vermeiden, keine Lasten heben, usw.
Der Tag eines moderat Erkrankten ist in der Regel von vielen Ruhepausen unterbrochen. Meist wechseln sich Aktivitätsphasen mit Ruhephasen ab. „Ruhepause“ meint in diesem Fall aber nicht das, was gesunde Menschen unter diesem Begriff verstehen, also zum Beispiel in der Hängematte liegen und ein Buch lesen. Um sich von einer Aktivität erholen zu können, benötigen auch moderat erkrankte ME-Patienten absolute Ruhe und oft auch Dunkelheit, also eine von Sinnesreizen möglichst freie Zeit, in der sie mit geschlossenen Augen daliegen und nichts tun. Diese Ruhephasen nehmen – je nach Schwere der Erkrankung – einen Großteil des Tages ein, so dass für Aktivitäten nur ein kleines Zeitfenster bleibt.
Manche moderat Erkrankte können stundenweise ein einigermaßen normales Leben führen, zum Beispiel Freunde treffen, ins Café gehen oder ähnliches. Angehörige sollten sich aber bewusst machen, dass der Erkrankte auch in dieser Zeit an quälenden Symptomen wie zum Beispiel Schmerzen leidet, die man ihm nicht ansieht. Vor allem ist es für Angehörige wichtig zu wissen, dass der Erkrankte nur für kurze Zeit in einem Zustand ist, in dem er solchen Aktivitäten nachgehen kann, und danach eine lange Phase – von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen – zur Regeneration benötigt. Angehörige sollten sich darüber im Klaren sein, dass auch für einen moderat Erkrankten jede Tätigkeit eine Anstrengung ist (am Tisch essen, ein Gespräch führen usw.), von der sich der Patient hinterher erholen muss.
Moderat Erkrankte haben oft größere Schwankungen in der Ausprägung ihrer Symptome als es bei Schwererkrankten, bei denen die Symptome andauernd sehr stark sind, der Fall ist. Es kann sein, dass die Symptome und damit auch die Beeinträchtigungen im Laufe eines Tages von leicht bis sehr stark variieren. Manche Patienten erleben auch einen wöchentlichen Wechsel, haben also „gute“ Wochen mit weniger starken Einschränkungen und „schlechte“ Wochen mit sehr starken Behinderungen. Für die Betroffenen ist es deswegen oft schwierig, etwas zu planen, da sie nicht vorhersehen können, wie es ihnen zu dem entsprechenden Zeitpunkt gehen wird und wie ihre Leistungsfähigkeit dann sein wird.