Verschlechterung des Zustands nach belastung


Das Hauptsymptom einer ME ist die Zustandsverschlechterung nach Belastung. Der Fachausdruck hierfür ist Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE), was sich mit „neuroimmune Entkräftung nach Belastung“ übersetzen lässt. Das Symptom kann unmittelbar nach einer körperlichen oder geistigen Anstrengung auftreten, oftmals besteht jedoch ein zeitlicher Abstand zur das Symptom auslösenden Aktivität. Man spricht dann von „zeitverzögerter Zustandsverschlechterung nach Belastung“. In Studien konnte nachgewiesen werden, dass bei ME-Erkrankten zeitverzögert nach körperlicher Aktivität bestimmte Zytokine ausgeschüttet werden, die Entzündungen triggern und möglicherweise für die PENE verantwortlich sind.

 

Fälschlicherweise glauben viele Angehörige von ME-Patienten, dass die Erkrankten nach einer körperlichen Belastung erschöpft und müde sind. PENE meint aber viel mehr als bloße Erschöpfung: Es bedeutet eine vollkommene Entkräftung des gesamten Organismus  sowie eine Verschlimmerung sämtlicher Symptome, die zu einer ME gehören wie Schmerzen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche, grippeähnliche Symptome und so weiter.

Im Gegensatz zu subjektiven Empfindungen wie Müdigkeit oder Erschöpfung, lässt sich die PENE z.B. mit zwei kardiopulmonalen Belastungstests im Abstand von 24 Stunden objektivieren.

Die PENE tritt nicht plötzlich ohne äußeren Anlass auf, sondern folgt immer – sei es direkt oder zeitverzögert – auf eine Aktivität. Wie umfangreich oder wie anstrengend eine körperliche Aktivität sein muss, um das Symptom der PENE auszulösen, ist vom Schweregrad der Erkrankung abhängig. Mild Erkrankte erleben PENE beispielsweise nach einem Spaziergang, für mäßig schwer Erkrankte kann bereits geringe körperliche Aktivität wie leichte Hausarbeit, zum Beispiel Geschirr spülen, zur PENE führen. Schwer Betroffene erleiden PENE schon nach extrem geringer körperlicher Belastung, beispielsweise wenn sie sich im Bett für wenige Minuten aufsetzen.

 

PENE tritt nicht nur nach körperlicher, sondern auch nach geistiger Aktivität auf. So können Beschäftigungen wie Lesen, ein Gespräch führen, am Computer arbeiten ebenso wie körperliche Betätigung zu einer Zustandsverschlechterung und Verschlimmerung aller Symptome führen.

 

Doch nicht nur durch körperliche und geistige Anstrengung kommt es zur PENE: Typischerweise wird PENE besonders auch durch Reize wie Licht und Geräusche ausgelöst. D.h.: Selbst wenn ein ME-Patient sich nicht bewegt und keiner geistigen Anstrengung folgt, wird er dieses Symptom erfahren, wenn er sich in einer hellen und lauten Umgebung aufhält.

 

Leben mit ME bedeutet, dass jegliche Betätigung – völlig unabhängig davon, ob sie als angenehm oder lästig empfunden wird – zu einer Zustandsverschlechterung führt. ME-Patienten empfinden die Zustandsverschlechterung nach Belastung oftmals als das grausamste von allen – bedeutet es doch, dass sie für alles, was sie tun – und was sie gerne tun, was ihnen Freude bereitet! –, mit einer Verschlechterung ihrer Krankheitssymptome „bestraft“ werden.

 

Für Außenstehende ist die PENE oftmals schwer nachvollziehbar. Die Erkrankten müssen sich während der neuroimmunen Entkräftung komplett zurückziehen, da sie in dieser akuten Phase keinerlei Geräusche oder sonstige Sinneseindrücke tolerieren. Das führt dazu, dass Freunde und sogar Familienangehörige oder auch Ärzte die Erkrankten nur in einer Phase, in der es ihnen vergleichsweise gut geht, zu Gesicht bekommen. In der auf die Aktivität folgenden Phase der völligen Entkräftung sind die Erkrankten allein und dadurch für andere „unsichtbar“. Dieser Umstand trägt viel dazu bei, dass es für Nichtbetroffene schwierig ist, die Schwere der Krankheit und das tatsächliche Ausmaß der Behinderung eines Erkrankten wahrzunehmen. Es ist durchaus möglich, dass ein ME-Erkrankter in der Lage ist, Besuch zu empfangen und währenddessen womöglich sogar einen recht gesunden Eindruck macht – er aber nach dieser Aktivität in den Zustand der neuroimmunen Entkräftung nach Belastung kommt und über Stunden hinweg mit starken Schmerzen völlig entkräftet im Bett vor sich hin vegetiert. Ein Außenstehender kann aber nur die „gute“ Phase wahrnehmen und erlebt die schlechte Phase nicht mit.

 

Wie lange eine PENE andauert, ist sehr unterschiedlich und hängt in erster Linie von dem Ausmaß der Belastung ab, die ihr vorangegangen ist. Sie kann wenige Stunden bis zu mehreren Tagen dauern. War die Belastung zu überwältigend, kann sich dadurch die Krankheit dauerhaft verschlechtern.

 

Während der neuroimmunen Entkräftung nach Belastung müssen die Erkrankten in der Regel liegen, da sie zu schwach zum Sitzen sind. Je nach Schwere der PENE können vorübergehend Lähmungen auftreten, oft in den Armen und/oder Beinen. Während dieser Zeit können die Patienten so schwach sein, dass sie sich nicht mehr alleine im Bett umdrehen oder sprechen können. Viele ME-Patienten schotten sich währenddessen von sämtlichen Sinnesreizen ab, tragen eine Augenbinde und Ohrschützer, da Licht und Geräusche die PENE noch verstärken.

 

Patienten beschreiben diesen Zustand der neuroimmunen Entkräftung nach Belastung als „fürchterliche Qual“, als „Folter“ oder als „Hölle“. Diese Wortwahl macht deutlich, was sie während dieser Zeit erleben und zeigt klar auf, dass dieser Zustand mit bloßer Müdigkeit, wie es Außenstehende oft fehlinterpretieren, nichts gemein hat. Das stundenlange – für Schwersterkrankte permanente – Abgeschnittensein von jeglichem Leben, das Liegen in totaler Dunkelheit und Lautlosgkeit, verbunden mit starken Schmerzen und weiteren Symptomen wie Lähmungen und kognitiven Einbußen macht eine ME-Erkrankung so qualvoll.